Stefan Ruppaner: Unterricht ohne Klassenzimmer? – Ein umfassendes Portrait des Schulreformers & Schmetterlingspädagogen
„Unterricht ist aller Übel Anfang“– Stefan Ruppaner
Stell Dir eine Schule vor, in der es keine Klassenräume gibt. Keine starren Stundenpläne. Keine Jahrgangsstufen. Eine Schule, in der Zehntklässler mit Fünftklässlern lernen, Abiturienten in der Grundschule Tänze einüben und dafür Credits erhalten. Eine Schule, in der Kinder selbstbestimmt ihren Lernweg gestalten und jeden Tag gerne hingehen. Utopie? Nein – Realität in Wutöschingen, einem kleinen Ort in Baden-Württemberg, wo Stefan Ruppaner als Schulleiter der Alemannenschule (von 2005 – 2024) eine stille Revolution im deutschen Bildungssystem angestoßen hat.
In einer Zeit, in der die PISA-Ergebnisse alarmieren und die Digitalisierung unsere Arbeitswelt fundamental verändert, zeigt Ruppaner einen Weg, wie Schule im 21. Jahrhundert aussehen kann: nicht als Ort der Belehrung, sondern als Raum für selbstorganisiertes Lernen und gemeinschaftliches Erleben. Seine „Schmetterlingspädagogik“ hat die Alemannenschule Wutöschingen zu einem internationalen Leuchtturmprojekt gemacht, das jährlich von hunderten Bildungsexperten, Ministeriumsvertretern und Pädagogen besucht wird.
Wer ist dieser Mann, der es gewagt hat, mit jahrhundertealten Bildungstraditionen zu brechen? Was treibt ihn an? Wie wollte die Politik ihn einschüchtern? Und was können wir von seinem Ansatz für die Zukunft des Lernens mitnehmen?
Stefan Ruppaner und seine Vision für Schule
Biographischer Hintergrund
Stefan Ruppaner ist ein innovativer Schulleiter und ein Bildungsrevolutionär, der es gewagt hat, das traditionelle Schulsystem grundlegend zu hinterfragen und neu zu denken. Geboren und aufgewachsen in der Region Südbaden, ist Ruppaner tief in seiner Heimat verwurzelt. Diese Verbundenheit zeigt sich auch in seinem langjährigen kommunalpolitischen Engagement: Seit 30 Jahren ist er Gemeinderatsmitglied (Parteiunabhängig) in Wutöschingen.
Diese Verbindung von pädagogischer Innovation und kommunalpolitischem Engagement ist charakteristisch für Ruppaners Ansatz: Er versteht Bildung nicht als isoliertes System, sondern als integralen Bestandteil der Gemeinschaft. Die Schule steht für ihn nicht neben, sondern mitten in der Gesellschaft. Das ist keine Floskel, sondern gelebte Realität, Pensionisten besuchen die Schule, um Kindern vorzulesen, genauso wie Schüler Projekte im echten Leben durchführen.
Werdegang als Pädagoge
Ruppaners beruflicher Werdegang begann als klassischer Lehrer. Nach seinem Studium unterrichtete er zunächst an einer Grundschule in einem Nachbarort von Wutöschingen. 2005 übernahm er dann die Leitung der Alemannenschule Wutöschingen, damals noch eine konventionelle Grund- und Hauptschule im sozialen Brennpunkt. Was folgte, war eine bemerkenswerte Transformation, die die Schule von einer durchschnittlichen Bildungseinrichtung zu einem international beachteten Innovationszentrum machte.
Neben seiner Tätigkeit als Schulleiter war Ruppaner jahrzehntelang in der Lehrerausbildung tätig, wo er seine Erfahrungen und Visionen an angehende Pädagogen weitergab. Im Jahr 2023 kündigte Ruppaner an, die Schulleitung der Alemannenschule im Folgejahr abzugeben, um sich neuen Projekten zu widmen. Als Vorstandsmitglied der Materialnetzwerk Genossenschaft setzt er sich nun verstärkt dafür ein, die an der Alemannenschule entwickelten Konzepte und Materialien einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Persönliche Motivation
Was treibt einen erfahrenen Pädagogen an, mit etablierten Strukturen zu brechen und einen völlig neuen Weg einzuschlagen? Nun, er sah den Film Treibhäuser der Zukunft von Reinhard Kahl… und dachte sich: „so ein Blödsinn“. „Klar, Kinder, die selbstständig lernen“. Aber es ließ ihn nicht los und so sah er sich eine der vorgestellten Schulen persönlich an. Und tatsächlich lernten die Kinder dort großteils selbstständig, hatten Spaß dabei und waren auch nicht rückständig.
2007 begann dann die Transformation. Zu Beginn ganz klein. Es gab zwei (Versuchs-)Klassen, die geöffnet wurden, in der einen Klasse gab es Deutschmaterialien und in der anderen Mathematik-Material. Die Kinder durften selbstständig entscheiden, wo sie zu lernen beginnen. Die Lehrer, die das Konzept interessant fanden, machten mit, die anderen blieben im klassischen Unterrichtssetting.
Dieser Beginn ist extrem motivierend, da viele sagen: „So was wie Wutöschingen, das geht bei uns nicht.“ Darauf muss man dann leider antworten: „So was wie Wutöschingen, ginge auch nicht in Wutöschingen. Zumindest nicht von heute auf morgen, aber gaaaannnz klein, Schritt für Schritt.“
Sein provokantes Credo heute „Unterricht ist aller Übel Anfang“ fasst diese Überzeugung prägnant zusammen. Ruppaner kritisiert damit nicht das Lernen an sich, sondern die Form des klassischen Frontalunterrichts, bei dem eine Lehrperson einer Gruppe von Schülern im gleichen Tempo den gleichen Stoff vermittelt – ungeachtet ihrer individuellen Interessen, Fähigkeiten und Lerngeschwindigkeiten.
Diese Kritik speist sich aus Ruppaners eigener Schulerfahrung, die er als wenig inspirierend erlebte, aber auch aus seiner langjährigen Beobachtung als Lehrer und Schulleiter, dass das traditionelle System bei vielen Kindern Motivation und Neugier eher erstickt als fördert.
Seine Vision ist eine Schule, in der Kinder jeden Tag gerne hingehen, in der sie selbstbestimmt lernen können und in der ihre natürliche Neugier und Lernfreude erhalten und gefördert wird. Diese Vision hat er an der Alemannenschule Wutöschingen in die Realität umgesetzt – nicht als theoretisches Konzept, sondern als gelebte Praxis.
Die Alemannenschule Wutöschingen: Ein Bildungslabor, ohne klassischen Unterricht
Von der traditionellen Schule zum Innovationszentrum
Als Stefan Ruppaner 2005 die Leitung der Alemannenschule Wutöschingen übernahm, war diese eine gewöhnliche Grund- und Hauptschule in einer ländlichen Region Baden-Württembergs. Nichts deutete darauf hin, dass sie einmal zu einem Leuchtturmprojekt der deutschen Bildungslandschaft werden würde.
Der Transformationsprozess begann mit einem neuen Leitbild, das Ruppaner für die Schule entwickelte. Unter dem Motto „Anstand, Selbstverantwortung und Wille“ – abgekürzt „ASW“ für Alemannenschule Wutöschingen – legte er den Grundstein für eine neue Schulkultur. Anmerkung: Heutzutage macht ja jeder ein Leitbild, einfach weil es „in“ ist. In diesem Fall hat sich Stefan Hilfe von Peter Fratton geholt, und dieses Leitbild als Haltung etabliert. Ihm ging es zwischendurch schon auf die Nerven, ständig auf die „Haltung“ zu achten, anstatt endlich mal was zu tun. Doch im Nachhinein fand er diesen Prozess als unglaublich bereichernd! Dieses einfache, aber prägnante Leitbild wurde von der gesamten Schulgemeinschaft (Stück für Stück) akzeptiert und bildete den Ausgangspunkt für die weiteren Veränderungen.
In den folgenden Jahren entwickelte sich die Alemannenschule schrittweise von einer traditionellen Bildungseinrichtung zu einer innovativen Gemeinschaftsschule, die heute Schüler von der ersten Klasse bis zum Abitur begleitet. Die Erweiterung um die gymnasiale Oberstufe war ein wichtiger Meilenstein, der die Attraktivität der Schule weiter steigerte und zeigte, dass das innovative Konzept auch für höhere Bildungsabschlüsse funktioniert.
Heute ist die Alemannenschule Wutöschingen weit über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus bekannt. Bildungsexperten, Ministeriumsvertreter und Pädagogen aus ganz Deutschland und dem Ausland besuchen die Schule, um das Konzept kennenzulernen und Inspiration für ihre eigene Arbeit zu finden. Selbst das Kultusministerium von Hessen hat Delegationen nach Wutöschingen geschickt, um von den dortigen Erfahrungen zu lernen.
Architektur und Raumkonzept
Eine der auffälligsten Besonderheiten der Alemannenschule ist ihr unkonventionelles Raumkonzept. Besucher fragen oft verwundert: „Wo sind denn hier die Klassenräume?“ Die Antwort lautet: Es gibt keine – zumindest nicht im traditionellen Sinne.
Statt nach Jahrgangsstufen organisierter Klassenräume verfügt die Schule über funktional gestaltete Lernlandschaften, die unterschiedliche Lernformen ermöglichen. Es gibt Bereiche für konzentriertes Einzelarbeiten, Zonen für Gruppenarbeit, Werkstätten für praktisches Lernen und Versammlungsflächen für gemeinsame Aktivitäten.
Diese architektonische Neugestaltung ist kein Selbstzweck, sondern spiegelt Ruppaners pädagogische Überzeugung wider: „Die alte Struktur von Schule hindert alle an dem, was wir eigentlich tun sollten.“ Die traditionelle Raumaufteilung mit Klassenzimmern, in denen Schüler in Reihen sitzen und nach vorne zur Lehrperson blicken, unterstützt primär den Frontalunterricht – genau jene Lernform, die Ruppaner überwinden möchte.
Die funktionale Raumgestaltung der Alemannenschule hingegen ermöglicht verschiedene Lernszenarien und unterstützt das jahrgangsübergreifende Lernen. Ein Zehntklässler kann hier problemlos mit einem Fünftklässler zusammenarbeiten, eine Abiturientin kann in der Grundschule Tänze einüben. Die Architektur wird so zum Möglichmacher für neue Formen des Lernens und Lehrens.
Digitale Lernumgebung
Neben der physischen Raumgestaltung spielt die digitale Lernumgebung eine zentrale Rolle im Konzept der Alemannenschule. Ruppaner beschreibt sie als „inzwischen das zentrale Element“ der Schule: „Wir können nicht mehr ohne.“
Diese Aussage ist bemerkenswert, da die Transformation der Alemannenschule zunächst im analogen Bereich begann. Vor etwa 12 Jahren, als die Schule ihr neues pädagogisches Konzept entwickelte, gab es noch keine digitale Lernplattform und keine iPads. Die Digitalisierung kam erst später hinzu – wurde dann aber schnell zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Konzepts.
Fun Fact: 2012 bemerkte, dass Schüler häufig auf den Smartphones unterwegs sind und sah, dass sie dort auch Dinge sehen, die nicht für Kinderaugen bestimmt sind (Nacktdarstellungen, etc.). Daraufhin beschloss er unverzüglich, dass Smartphones in der Schule verboten werden sollten. Auch hier ist die Alemannenschule, der traditionellen Schule ziemlich genau 13 Jahre voraus.
Digitale Bildung heißt für Ruppaner nämlich nicht, viele oder tolle Endgeräte zu besitzen, sondern Lerntools nutzen, die eingeschränkt sind auf das Lernen. Die iPads der Schule haben nämlich keinen Zugriff auf Social-Media.
Heute verfügt die Alemannenschule über eine eigene digitale Lernplattform namens „Cliq“, auf der alle Lernmaterialien hinterlegt sind. Diese Plattform ermöglicht es den Schülern, frei von Zeit und Raum zu lernen – sie können jederzeit und überall auf die Materialien zugreifen. Wie Ruppaner betont: „Frei von Zeit und Raum kann ich erst lernen, seit wir digitale Lernplattformen haben und ich quasi das Zeug runterladen kann, wann und wo ich will.“
Die digitale Lernumgebung unterstützt das selbstorganisierte Lernen, indem sie den Schülern ermöglicht, in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten und ihre Lernprozesse selbst zu steuern. Sie können entscheiden, wann, wo und mit wem sie lernen möchten – im Lernatelier, im kooperativen Lernbereich, zu Hause oder sogar in den Ferien. Wichtig ist hierbei natürlich vorbereitete und darauf optimierte Lernmaterialien – nicht jedes Lernmaterial eignet sich zum selbstständigen Lernen. Genau das haben die Lehrer von Wutöschingen vor, über 10 Jahren begonnen zu erstellen.
Bericht einer Mutter von 4 Kindern
„Mein großer Sohn ist chronisch krank, die Lehrkräfte wissen das. Und in schlechten Zeiten ist es überhaupt kein Problem, dass er zu Hause lernt. Meine älteste Tochter ist ehrgeizig und super strukturiert und kriegt an der ASW die Möglichkeit, Gas zu geben, so, wie sie es mag.
Und meine zweite Tochter ist sehr schüchtern und ging deshalb auf ihrer alten Schule, einem G8-Gymnasium, oft unter. Ich bin erstaunt, wie offen und mutig sie in den ver- gangenen zwei Jahren geworden ist. Sie macht inzwischen sogar Präsentationen, Vorträge, steht beim Musical auf der Bühne. Erst kürzlich war ich beim persönlichen Elterngespräch. Die Lernbegleiterin [sic!] hat gesagt: ‚Ich erzähl Ihnen jetzt mal was über Ihr Kind. Und dann erzählen Sie mir was.‘ Das war fast deckungsgleich und hat mich wirklich verblüfft.
Das ist für mich auch der entscheidende Unterschied zu den Schulen, auf denen meine Kinder vorher waren: An der Alemannenschule werden die ganzen Kinder gesehen. Und sie sind nicht einfach nur Notenablieferer.“ (Hermann, 2025, S. 2; Hervorhebung von mir)
Die Schmetterlingspädagogik
Theoretische Grundlagen
Das pädagogische Konzept, das Stefan Ruppaner an der Alemannenschule Wutöschingen entwickelt hat, nennt er „Schmetterlingspädagogik“. Der Name leitet sich vom Wappentier der Gemeinde Wutöschingen ab – dem Schmetterling. Wie ein Schmetterling zwei Flügelseiten (zwei Flügel pro Seite) hat, so basiert auch die Schmetterlingspädagogik auf zwei grundlegenden Säulen oder „Flügeln“.
Ruppaner erklärt: „Wir nennen es Schmetterlingspädagogik. Schmetterling ist das Wappentier von Wutöschingen, und der Schmetterling hat zwei Seiten. Auf der einen Seite ist das selbstorganisierte Lernen und auf der anderen Seite ist das Lernen durch Erleben.“
Diese beiden Lernformen ergänzen sich gegenseitig und bilden zusammen ein ganzheitliches Bildungskonzept. Während das selbstorganisierte Lernen die individuelle Entwicklung und das eigenständige Arbeiten fördert, stärkt das Lernen durch Erleben die sozialen Kompetenzen und das gemeinschaftliche Handeln.
Die Schmetterlingspädagogik ist keine theoretische Konstruktion, die von außen an die Schule herangetragen wurde, sondern ein Konzept, das aus der praktischen Arbeit an der Alemannenschule entstanden ist. Wie Ruppaner betont: „Wir haben zuerst gemacht an der Alemannenschule und haben es dann in eine theoretische Form gegossen.“
Diese Praxisorientierung ist charakteristisch für Ruppaners Ansatz: Er ist kein Theoretiker, der abstrakte Konzepte entwickelt, sondern ein Praktiker, der aus den Erfahrungen des Schulalltags heraus neue Wege des Lernens und Lehrens entwickelt.
Selbstorganisiertes Lernen: Der erste Flügel
Der erste Flügel der Schmetterlingspädagogik ist das selbstorganisierte Lernen. Ruppaner beschreibt es so: „Selbstorganisiertes Lernen funktioniert frei von Zeit und Raum. Selbstorganisiertes Lernen kannst du allein machen, zu zweit, zu dritt, zu siebt, zu Hause, im Lernatelier, ganz leise, im kooperativen Lernbereich, in den Ferien – wann auch immer es dir passt, kannst du selbstorganisiert lernen.“
Diese Form des Lernens ermöglicht es den Schülern, ihren Lernprozess selbst zu gestalten und in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten. Sie entscheiden, wann, wo und mit wem sie lernen möchten. Diese Freiheit fördert die Eigenverantwortung und die intrinsische Motivation.
Um das selbstorganisierte Lernen zu unterstützen, hat die Alemannenschule verschiedene Werkzeuge entwickelt:
- Graduierung: Ein System, das den Schülerinnen und Schülern je nach ihrem Entwicklungsstand unterschiedliche Rechte und Pflichten zuweist. Es gibt Neustarter (rot), Starter (gelb), Durchstarter (grün) und Lernprofi (blau), mehr dazu im Hauptartikel: Die Alemannenschule Wutöschingen.
- Kompetenzraster: Eine Übersicht über die zu erwerbenden Kompetenzen, die den Schülern Orientierung gibt.
- Gelingensnachweise: Eine Alternative zu traditionellen Klassenarbeiten, die den Lernfortschritt dokumentiert und Feedback gibt und zu einem selbstständig definierten Zeitpunkt erledigt werden kann.
- Klare Instruktionen und gut gestaltete Materialien: Diese geben den Schülern die notwendige Orientierung, um selbstständig zu lernen.
Das selbstorganisierte Lernen wird durch die digitale Lernplattform „Cliq“ unterstützt, auf der alle Lernmaterialien hinterlegt sind. Diese Plattform ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, jederzeit und überall auf die Materialien zuzugreifen.
Lernen durch Erleben: Der zweite Flügel
Der zweite Flügel der Schmetterlingspädagogik ist das Lernen durch Erleben. Im Gegensatz zum selbstorganisierten Lernen, das individuell und flexibel gestaltet werden kann, findet das Lernen durch Erleben in der Gemeinschaft statt und ist an bestimmte Zeiten und Orte gebunden.
Ruppaner erklärt: „Jedes Fach muss entscheiden, was sich durch erfahrungsbasiertes Lernen vermitteln lässt. Diskussionen beispielsweise funktionieren nur gemeinsam. Aber wenn ich lernen möchte, wie Poker gespielt wird, kann ich das mit Erklärfilmen und in kleinen Teams selbstorganisiert schaffen. Eine mehrtägige Hüttenwanderung durch die Alpen hingegen lässt sich nicht zeit- und ortsunabhängig durchführen.“
Das Lernen durch Erleben umfasst Projekte, Exkursionen, praktische Übungen und gemeinschaftliche Aktivitäten. Es ermöglicht den Schülern, Wissen in authentischen Kontexten anzuwenden und durch eigene Erfahrungen zu lernen.
An der Alemannenschule gibt es verschiedene „Clubs“, die praktische Erfahrungen und Projekte ermöglichen. Es gibt beispielsweise einen Bienen-Club, der draußen an Bienenhäuschen arbeitet, einen Bauernhof-Club, der auf dem Bauernhof stattfindet, und einen Wald-Club, der im Wald stattfindet. Diese Clubs sind über das ganze Dorf verteilt und ermöglichen ein Lernen durch Erleben in authentischen Umgebungen.
Auch der Heimatunterricht findet nicht immer im Klassenzimmer statt, sondern im „Lebensraum Gut“ an der Wutach, verteilt über das ganze Dorf. Die Fächer werden in Trimestern organisiert, wobei beispielsweise ein Trimester Heimatkunde, ein Trimester Geografie und ein Trimester Deutschland behandelt wird, wenn das Wetter besser wird.
Die Rolle der Lehrperson als Lernbegleiter
In der Schmetterlingspädagogik verändert sich die Rolle der Lehrperson grundlegend. Aus Lehrern werden Lernbegleiter, die nicht mehr primär Wissen vermitteln, sondern die Lernprozesse der Schüler begleiten und unterstützen.
Ruppaner beschreibt diese neue Rolle so: „Wir können keine Lernbegleiter ausbilden, wir müssen das alles erst berufsbegleitend machen, wenn die dann zu uns in die Schule kommen.“ Diese Aussage verdeutlicht, dass die traditionelle Lehrerausbildung nicht auf die Anforderungen der Schmetterlingspädagogik vorbereitet und dass die Lehrpersonen an der Alemannenschule einen Transformationsprozess durchlaufen müssen.
Die Lernbegleiter an der Alemannenschule haben deutlich weniger Unterrichtsstunden als Lehrkräfte an traditionellen Schulen – maximal 12 statt 27 Deputatsstunden. Diese Zeit nutzen sie für individuelle Betreuung und Coaching. Sie stellen Räumlichkeiten, Zeit und Materialien zur Verfügung und unterstützen die Kinder und Jugendlichen bei ihrem selbstorganisierten Lernen.
Die Expertise, die früher primär bei der Lehrperson lag, verteilt sich in der Schmetterlingspädagogik auf verschiedene Quellen. Ruppaner erklärt: „Die Expertise war vor 100 Jahren der Lehrer. Der Lehrer hat vor 100 Jahren gewusst, wie die Dampfmaschine funktioniert.“ Heute können Schüler auf vielfältige Wissensquellen zugreifen, und die Rolle der Lehrperson besteht darin, sie dabei zu unterstützen, diese Quellen zu nutzen und ihr Wissen zu konstruieren.
Digitalisierung nutzen, anstatt an ihr verblöden
Von analog zu digital
Die Digitalisierung spielt eine zentrale Rolle im Konzept der Alemannenschule Wutöschingen, obwohl sie nicht von Anfang an Teil der Transformation war. Als Stefan Ruppaner und sein Team vor etwa 18 Jahren begannen, die Schule neu zu denken, stand zunächst die pädagogische Neuausrichtung im Vordergrund. Die Digitalisierung kam erst später hinzu – wurde dann aber schnell zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Konzepts.
Ruppaner beschreibt diesen Prozess so: „Frei von Zeit und Raum kann ich erst lernen, seit wir digitale Lernplattformen haben und ich quasi das Zeug runterladen kann, wann und wo ich will.“ Diese Aussage verdeutlicht, dass die Digitalisierung das selbstorganisierte Lernen, den ersten Flügel der Schmetterlingspädagogik, überhaupt erst in seiner heutigen Form ermöglicht hat.
Die Alemannenschule hat den Übergang von analog zu digital schrittweise vollzogen. Zunächst wurden analoge Lernmaterialien entwickelt, die das selbstorganisierte Lernen unterstützen sollten. Mit der Zeit wurden diese Materialien digitalisiert und auf einer Lernplattform bereitgestellt, was den Schülern einen flexibleren Zugang ermöglichte. Heute ist die Digitalisierung ein integraler Bestandteil des Schulalltags an der Alemannenschule. Die Schüler nutzen digitale Geräte für ihr Lernen, haben Zugang zu einer umfangreichen digitalen Lernplattform und können jederzeit und überall auf ihre Lernmaterialien zugreifen.
Die digitale Lernplattform „Cliq“
Das Herzstück der digitalen Lernumgebung an der Alemannenschule ist die eigens entwickelte Lernplattform „Cliq“. Diese Plattform stellt alle Lernmaterialien bereit und unterstützt das selbstorganisierte Lernen der Schülerinnen und Schüler.
Auf „Cliq“ finden die Schüler Lernpakete zu verschiedenen Themen und Fächern. Sie können diese Pakete herunterladen und bearbeiten, wann und wo sie möchten. Die Plattform bietet auch Möglichkeiten zur Selbstüberprüfung und zum Feedback, sodass die Schülerinnen und Schüler ihren Lernfortschritt verfolgen können.
Ein besonderes Merkmal von „Cliq“ ist, dass die Plattform nicht nur von den Lehrpersonen, sondern auch von den Schülern mitgestaltet wird. Ruppaner berichtet: Die Materialen haben wir gemeinsam mit den Kindern erstellt. Wenn ein ausgezeichneter Pädagooge erstklassige Materialien erstellt und die Kinder damit nicht gut Lernen können, dann werden die Materialen nicht genutzt, sondern überarbeitet oder neu erstellt. Einmal haben Schüler gefragt: „Könnten wir da nicht die Rubrik machen, wo man reinschreibt, für was man das braucht?“ Und schon wurde diese Idee umgesetzt. Diese Einbeziehung der Schüler in die Entwicklung der Lernplattform ist charakteristisch für den partizipativen Ansatz der Alemannenschule.
Die Lernplattform „Cliq“ ist nicht nur für die Schüler der Alemannenschule zugänglich, sondern wird im Rahmen des Materialnetzwerks auch anderen Schulen und Lehrpersonen kostenlos zur Verfügung gestellt. Damit trägt die Alemannenschule zur Verbreitung ihres pädagogischen Konzepts und zur Unterstützung anderer Bildungseinrichtungen bei.
Künstliche Intelligenz im Bildungskontext
Stefan Ruppaner sieht in der Künstlichen Intelligenz (KI) eine weitere Entwicklungsstufe der Digitalisierung, die das Lernen und Lehren grundlegend verändern wird. Er betrachtet KI nicht als Bedrohung, sondern als Chance, das selbstorganisierte Lernen noch besser zu unterstützen und zu individualisieren.
KI kann beispielsweise personalisierte Lernpfade erstellen, adaptive Übungen anbieten und individuelles Feedback geben (Mehr dazu im umfangreichen Hauptartikel: Wirklich Lernen mit KI). Sie kann Schüler bei der Selbsteinschätzung unterstützen und ihnen helfen, ihre Lernprozesse zu reflektieren. Zudem kann KI Lehrpersonen entlasten, indem sie Routineaufgaben übernimmt und so mehr Zeit für die individuelle Betreuung und das Coaching schafft.
An der Alemannenschule werden bereits erste Erfahrungen mit KI im Bildungskontext gesammelt. Die Schule experimentiert mit KI-gestützten Lerntools und untersucht, wie diese das selbstorganisierte Lernen und das Lernen durch Erleben unterstützen können.
Ruppaner betont jedoch, dass KI die menschliche Beziehung nicht ersetzen kann, soll und wird. Der Kern des Bildungsprozesses bleibt für ihn die Beziehung zwischen Lehrperson und Lernenden, zwischen den Lernenden untereinander und zwischen den Lernenden und dem Lerngegenstand. KI ist ein Werkzeug, das diese Beziehungen unterstützen und bereichern kann, aber nicht ersetzen soll.
Materialnetzwerk: Bildung als Gemeingut
Die Idee des freien Austauschs
Stefan Ruppaner versteht Bildung als Gemeingut, das allen zugänglich sein sollte. Diese Überzeugung hat ihn dazu geführt, die an der Alemannenschule entwickelten Lernmaterialien und -konzepte kostenlos mit anderen Schulen und Lehrpersonen zu teilen. Er kritisiert, dass der Staat seiner Verantwortung in diesem Bereich nicht ausreichend nachkommt: „Obwohl es eigentlich Job des Staates wäre, das zu machen, haben wir von staatlicher Seite noch keinerlei Gelder gekriegt.“
Die Idee des freien Austauschs von Bildungsmaterialien ist für Ruppaner nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der Effizienz. Warum sollten Tausende von Lehrpersonen in Deutschland die gleichen Materialien immer wieder neu entwickeln, wenn sie stattdessen auf einen gemeinsamen Pool qualitativ hochwertiger Ressourcen zugreifen könnten? Diese Überlegung führte zur Gründung des Materialnetzwerks.
Die Materialien sind so gestaltet, dass sie das selbstorganisierte Lernen optimal unterstützen. Sie bieten klare Instruktionen und sind sorgfältig strukturiert, um den Schülern Orientierung zu geben. Bevor ein Material online geht, wird es von Schülern geprüft. Das ist der ultimative Selbstlernmaterialientest. Ruppaner erklärt: „Was auch schon vor 12 Jahren klar war: Wir brauchen klare Instruktionen, wir brauchen Lernmaterialien, an denen sich die Kinder orientieren können.“
Die Materialnetzwerk Genossenschaft
Um die Idee des freien Austauschs von Bildungsmaterialien zu institutionalisieren, hat Ruppaner die Materialnetzwerk Genossenschaft gegründet. Diese gemeinnützige Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, „Lernmaterialien zum selbstorganisierten Lernen für jedermann kostenlos zur Verfügung zu stellen.“
Nach seinem Ausscheiden als Schulleiter der Alemannenschule im Jahr 2024 widmet sich Ruppaner verstärkt dieser Aufgabe. Als Vorstandsmitglied der Materialnetzwerk Genossenschaft setzt er sich dafür ein, die an der Alemannenschule entwickelten Konzepte und Materialien einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Die Genossenschaft hat erhebliche Ressourcen in die Entwicklung einer digitalen Plattform investiert: „Wir haben für über 250.000 € ein Tool entwickelt, mit dem man die Materialien zur Verfügung stellen kann.“ Diese Investition zeigt, wie ernst es Ruppaner mit der Verbreitung des selbstorganisierten Lernens ist.
Die Materialnetzwerk Genossenschaft arbeitet eng mit der digitalen Lernplattform „Cliq“ zusammen, die auch an der Alemannenschule eingesetzt wird. Diese Plattform ermöglicht es Schülern, Lernpakete herunterzuladen und zu bearbeiten, wann und wo sie möchten. Interessanterweise ist „Cliq“ auch die Plattform, die die Kultusministerkonferenz für die Handreichungen eingeführt hat, was die Kompatibilität mit dem offiziellen Bildungssystem sicherstellt.
Open Educational Resources
Das Konzept der Open Educational Resources (OER) – frei zugängliche Bildungsmaterialien, die ohne oder mit minimalen Einschränkungen genutzt, verändert und weitergegeben werden können – ist ein zentraler Bestandteil von Ruppaners Vision. Die Materialnetzwerk Genossenschaft kann als praktische Umsetzung dieses Konzepts verstanden werden.
Ruppaner sieht in OER nicht nur ein Mittel, um Bildungsgerechtigkeit zu fördern, sondern auch eine Möglichkeit, die Qualität von Bildungsmaterialien zu verbessern. Durch den freien Austausch und die gemeinsame Weiterentwicklung können Materialien kontinuierlich optimiert werden.
Die an der Alemannenschule entwickelten Materialien zeichnen sich durch ihre klare Struktur und ihre Orientierung am selbstorganisierten Lernen aus. Sie sind so gestaltet, dass sie von Schülern selbstständig bearbeitet werden können, ohne dass eine Lehrperson ständig anwesend sein muss. Dies ermöglicht ein Lernen, das frei von Zeit und Raum ist – ein zentrales Element der Schmetterlingspädagogik.
Messbarer Erfolg und Evaluation
Leistungsergebnisse der Schüler
Die innovative Pädagogik der Alemannenschule Wutöschingen wirft natürlich die Frage auf: Funktioniert das Konzept auch in Bezug auf messbare Lernerfolge? Die Antwort ist ein klares Ja. Die Schüler der Alemannenschule schneiden in standardisierten Tests und Abschlussprüfungen überdurchschnittlich gut ab.
Ein bemerkenswertes Phänomen, das Ruppaner beobachtet hat, ist die Veränderung des Lernverhaltens durch die digitale Lernplattform: „Die meisten Prüfungen [finden] nach solchen Ferien [statt], weil die [Schüler] in die Ferien gehen und mit dem iPad lernen. Die lernen ihre Sache, kommen und sagen: ‚So, jetzt kann ich schreiben.’“ Diese Flexibilität im Lernprozess führt dazu, dass die Schüler besser vorbereitet in Prüfungen gehen und entsprechend bessere Ergebnisse erzielen.
Das selbstorganisierte Lernen ermöglicht es auch, im eigenen Tempo zu arbeiten und sich auf seine Stärken zu konzentrieren. „Bei uns können die ohne Weiteres schneller in einem oder in zwei Fächern sein, ganz wie sie wollen.“ Diese Individualisierung führt dazu, dass Schüler ihr Potenzial besser ausschöpfen können.
Die Alemannenschule hat auch bewiesen, dass ihr Konzept für alle Bildungsabschlüsse funktioniert. Die Erweiterung um die gymnasiale Oberstufe war ein wichtiger Meilenstein, der zeigte, dass das innovative Konzept auch für höhere Bildungsabschlüsse geeignet ist. Die Abiturienten der Alemannenschule schneiden in den zentralen Prüfungen gut ab und sind auf ein Hochschulstudium oder eine Berufsausbildung gut vorbereitet.
Motivation und Wohlbefinden
Neben den messbaren Leistungsergebnissen legt die Alemannenschule großen Wert auf die Motivation und das Wohlbefinden der Schüler. Ruppaner ist überzeugt, dass Lernen nur dann nachhaltig erfolgreich sein kann, wenn es mit positiven Emotionen verbunden ist.
Die Schmetterlingspädagogik mit ihren zwei Flügeln – dem selbstorganisierten Lernen und dem Lernen durch Erleben – schafft eine Lernumgebung, in der sich die Schüler wohlfühlen und motiviert sind. Das selbstorganisierte Lernen ermöglicht es ihnen, ihren eigenen Interessen zu folgen und in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten, was die intrinsische Motivation fördert. Das Lernen durch Erleben schafft gemeinschaftliche Erfahrungen und stärkt das Zugehörigkeitsgefühl.
Besonders hervorzuheben ist, dass die Alemannenschule trotz des Verzichts auf traditionelle Klassengemeinschaften ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickelt hat. Wie Ruppaner erklärt, ist das Lernen durch Erleben ein wichtiger Faktor für die Gemeinschaftsbildung: „Dieses Lernen durch Erleben, das ist ja letztlich auch das, was dann die Gemeinschaft schafft.“. Ein weiterer Faktor sind natürlich die individuellen Einzelcoachings, die jeder Schüler von Lehrern erhält – etwas, das nur möglich ist, wenn Lehrer nicht ständig unterrichten und müssen oder Orgakram abarbeiten.
Die positive Atmosphäre an der Alemannenschule zeigt sich auch darin, dass die Schüler gerne zur Schule gehen und aktiv am Schulleben teilnehmen. Sie übernehmen Verantwortung für ihr eigenes Lernen und für die Schulgemeinschaft, was ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstwirksamkeit stärkt.
Kritik und Kontroversen
Traditionelle Bildungsvertreter
Trotz der messbaren Erfolge und der positiven wissenschaftlichen Evaluation stößt das Konzept der Alemannenschule bei traditionellen Bildungsvertretern auf Skepsis und Kritik. Diese Kritik richtet sich vor allem gegen den Verzicht auf traditionellen Frontalunterricht und die Auflösung der Klassengemeinschaften.
Kritiker argumentieren, dass der Frontalunterricht eine bewährte Methode sei, um Wissen effizient zu vermitteln, und dass die Klassengemeinschaft ein wichtiger sozialer Rahmen für die Entwicklung der Schüler sei. Sie befürchten, dass das selbstorganisierte Lernen zu einer Überforderung der Schüler führen könnte und dass die soziale Interaktion zu kurz kommen könnte. Genau hier kommt das Graduierungssystem (siehe Hauptartikel zur Alemannen-Schule) zu tragen. Hierdurch entsteht keine Überforderung. Laut Aussagen der Schüler ist die Schulgemeinschaft sogar sehr gut, nur dass man eben eine ganze Schule hinter sich hat und nicht nur eine gleichaltrige Klasse.
Auch die starke Digitalisierung an der Alemannenschule wird von manchen kritisch gesehen. Sie befürchten, dass die digitalen Medien die persönliche Interaktion ersetzen könnten und dass die Schüler zu viel Zeit vor Bildschirmen verbringen könnten. Geanu hier war Ruppaner 2012 bereits sehr vorausschauend und hat Smartphones verboten. Denn diese führen tatsächlich dazu, dass Schüler weniger miteinander Reden und mehr ins Handy gucken. Etwas was an traditionellen Schulen oft (noch) nicht umgesetzt wurde.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Rolle der Lehrperson. Traditionelle Bildungsvertreter sehen die Lehrperson als Wissensvermittler und Autoritätsperson, während sie an der Alemannenschule als Lernbegleiter fungiert. Diese Veränderung der Rolle wird von manchen als Abwertung des Lehrerberufs interpretiert.
Übertragbarkeit des Modells
Eine weitere Kontroverse betrifft die Frage, ob das Modell der Alemannenschule auf andere Schulen übertragen werden kann. Kritiker argumentieren, dass die Alemannenschule unter besonderen Bedingungen arbeitet – mit einem engagierten Schulleiter, einem motivierten Kollegium und einer unterstützenden Gemeinde – und dass diese Bedingungen nicht überall gegeben sind. Die Wahrheit ist, dass nicht jeder mitgemacht hat am Anfang, aber mit der Zeit wurden es immer mehr, bis die ganze Schule „infiziert“ war.
Auch die räumlichen und technischen Voraussetzungen der Alemannenschule sind nicht überall vorhanden. Die funktional gestalteten Lernlandschaften und die digitale Infrastruktur erfordern erhebliche Investitionen, die sich nicht alle Schulen leisten können. Doch auch hier hat die Alemannenschule gestartet, wie jede andere Schule – mit langweiligen, ungemütlichen Möbeln, wie man sie aus jeder Schule kennt. Ruppaner hat diese Schritt für Schritt ausgetauscht und argumentiert, dass die funktionalen, gemütlichen Möbel sogar billiger sind als traditionelle Schulmöbel. Dieses Geld kann man woanders wieder sinnvoll investieren.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Ausbildung der Lehrpersonen. Wie Ruppaner selbst betont, werden Lehrpersonen traditionell nicht als Lernbegleiter ausgebildet: „Wir können keine Lernbegleiter ausbilden, wir müssen das alles erst berufsbegleitend machen, wenn die dann in die Schule kommen.“ Dieser Aspekt muss berücksichtigt werden.
Ruppaners Antworten auf Kritik
Stefan Ruppaner begegnet der Kritik an seinem Konzept mit einer Mischung aus Verständnis und Entschlossenheit. Er versteht, dass Veränderungen im Bildungssystem Zeit brauchen und dass nicht alle sofort von seinem Ansatz überzeugt sein werden. Gleichzeitig ist er überzeugt, dass die traditionelle Schule den Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht wird und dass ein grundlegender Wandel notwendig ist.
Auf die Kritik, dass der Verzicht auf Frontalunterricht zu einer Vernachlässigung der Wissensvermittlung führen könnte, antwortet Ruppaner, dass das selbstorganisierte Lernen mit gut gestalteten Materialien und klaren Instruktionen eine effizientere Form der Wissensvermittlung sei. Die Schüler können in ihrem eigenen Tempo arbeiten und bekommen die Unterstützung, die sie individuell benötigen.
Auf die Befürchtung, dass die soziale Interaktion zu kurz kommen könnte, verweist Ruppaner auf den zweiten Flügel der Schmetterlingspädagogik: das Lernen durch Erleben. Dieses findet in der Gemeinschaft statt und fördert die sozialen Kompetenzen. „Dieses Lernen durch Erleben, das ist ja letztlich auch das, was dann die Gemeinschaft schafft“, erklärt er. Die Alemannenschule hat trotz des Verzichts auf traditionelle Klassengemeinschaften ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickelt.
Auch die Kritik an der starken Digitalisierung kontert Ruppaner mit dem Hinweis, dass digitale Medien das selbstorganisierte Lernen erst in seiner heutigen Form ermöglichen: „Frei von Zeit und Raum kann ich erst lernen, seit wir digitale Lernplattformen haben und ich quasi das Zeug runterladen kann, wann und wo ich will.“ Die Digitalisierung ist für ihn kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug, das neue Formen des Lernens ermöglicht.
Zur Frage der Übertragbarkeit des Modells betont Ruppaner, dass die Alemannenschule keine Privatschule mit besonderen Bedingungen ist, sondern eine ganz normale staatliche Schule, die innerhalb des bestehenden Systems neue Wege gegangen ist. „Wir haben zuerst gemacht an der Alemannenschule und erst dann haben wir es eine theoretische Form gegossen“, erklärt er. Dieser pragmatische Ansatz zeigt, dass Veränderungen auch innerhalb des bestehenden Systems möglich sind.
Um die Übertragbarkeit zu erleichtern, hat Ruppaner die Materialnetzwerk Genossenschaft gegründet, die die an der Alemannenschule entwickelten Materialien kostenlos zur Verfügung stellt. Zudem arbeitet er an einem Bachelor- und Masterstudiengang in Schmetterlingspädagogik, um Lehrpersonen gezielt für diese neue Form des Lehrens und Lernens auszubilden.
Steine die Stefan Ruppaner in den Weg gelegt wurden
Wie sagt man so schön, wenn Dir jemand Steine in den Weg legt, baue ein Steinhaus daraus. Ruppaner nahm das ganz ernst. Ulrich Herrmann schreibt in „Lehrer hört die Signale“. Auf dem Weg zur Schul-Revolution? folgendes:
„Diese Schule könnte nicht nur „Schule machen“, sondern müsste es, nicht weil sie „unser Bildungssystem revolutioniert“ hat (Untertitel) – das könnte nicht mal der Gesetzgeber –, sondern weil Schulleitung und Kollegium sich mit Unterstützung der Kommune gegen alle obrigkeitlich-bürokratischen Widerstände und Schikanen mit einem grundsätzlichen Alternativ-Programm zum vorherrschenden Schulbetrieb durchgesetzt haben: von der bürokratisch verfassten Belehrungsanstalt zum pädagogisch-psychologisch inspirierten Lebens- und Lernort von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Das ist revolutionär.“ (Herrmann, 2025, S1.; Hervorhebungen meine)
Weiter untem im Text wird Herrmann (2025) konkreter:
„Dann kam ein CDU-rollback mit allerlei Schikanen für den Schulleiter, vom „Sprechverbot“ bis zur drohenden Amtsenthebung.“ (Ebd., S. 7)
Ruppaner durfte sich folgendes gefallen lassen:
„Zwei Eintragungen in die Chronik der Be- und Verhinderung von Entwicklungen im Bereich der Staatsschulen sollen hier nicht fehlen, durch die sich „die“ Bürokratie zur Kenntlichkeit entstellte: (1) Es war zu prüfen, ob der Leiter [Stefan Ruppaner] einer Grund- und Hauptschule überhaupt geeignet ist, eine Gemeinschaftsschule mit Gymnasialer Oberstufe zu leiten. Auf diese Idee muss man erst mal kommen, aber Stefan Ruppaner bekam für einige Zeit in die Lehrerkonferenzen von Amts wegen einen „Aufpasser“ gesetzt. (2) Ein Lehrauftrag für die Zeit nach dem Eintritt in den Ruhestand wurde verweigert: man möchte die Schule offen- sichtlich „Ruppaner frei“ halten.“ (Ebd., S. 7, Hervorhebung meine)
Wir können also sehr glücklich sein, dass sich Ruppaner mit solchen „Bürokratie-Spielereien“ nicht hat einschüchtern lassen und seinen Weg gegangen ist. Den deutschen Schulpreis hat er zwar viel zu spät (2019, also 12 Jahre nach der Umstellung) bekommen, aber immerhin hat sich seine Ausdauer gelohnt, vor allem für die Schüler, die in diese Schule gehen durften. Die Alemannenschule ist auch eine der wenigen Schulen, die doppelt so viele Anmeldungen bekommt, die wir Schüler nehmen können.
Einfluss auf das Bildungssystem
Nachahmer und inspirierte Schulen
Die Alemannenschule Wutöschingen hat in den letzten Jahren einen erheblichen Einfluss auf die deutsche Bildungslandschaft ausgeübt. Immer mehr Schulen lassen sich von ihrem Konzept inspirieren und implementieren Elemente der Schmetterlingspädagogik in ihren eigenen Unterricht.
Besonders bemerkenswert ist, dass die Alemannenschule nicht nur private oder freie Schulen inspiriert, sondern auch staatliche Schulen. Dies zeigt, dass das Konzept der Schmetterlingspädagogik auch innerhalb des bestehenden Bildungssystems umsetzbar ist – wenn auch mit Anpassungen an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten.
Die Verbreitung des Konzepts wird durch das Materialnetzwerk unterstützt, das die an der Alemannenschule entwickelten Lernmaterialien kostenlos zur Verfügung stellt. Dadurch können andere Schulen auf erprobte Materialien zurückgreifen und müssen nicht bei null anfangen, wenn sie Elemente des selbstorganisierten Lernens in ihren Unterricht integrieren möchten.
Auch die zahlreichen Besuche von Bildungsexperten, Ministeriumsvertretern und Pädagogen an der Alemannenschule tragen zur Verbreitung des Konzepts bei. Wie Ruppaner berichtet: „Die Alemannenschule ist inzwischen bekannt. Auch das Kultusministerium von Hessen ist in zwei Wochen zu Besuch mit über 30 Leuten.“ Diese Besuche ermöglichen es den Gästen, das Konzept in der Praxis zu erleben und Inspiration für ihre eigene Arbeit zu finden.
Bildungspolitische Impulse
Ruppaner berichtet, dass die Politik inzwischen offener für Experimente und Innovationen im Bildungsbereich ist: „Inzwischen ist so bisschen die Haltung bei der Politik, dass die sagen: ‚Ja, macht mal bisschen, ihr könnt Sachen ausprobieren.’“ Diese Offenheit ist ein wichtiger Schritt, um das Bildungssystem weiterzuentwickeln und an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen.
Gleichzeitig kritisiert Ruppaner, dass der Staat seiner Verantwortung in Bezug auf die Bereitstellung von Lernmaterialien nicht ausreichend nachkommt. Auch wünscht sich Stefan Ruppaner mehr Freiheiten zum Beispiel im Bereich Homeschooling.
Die Alemannenschule hat auch gezeigt, dass die bestehenden Bildungspläne und Vorschriften mehr Spielraum für innovative Ansätze bieten, als oft angenommen wird. Wie Ruppaner erklärt, hat die Schule die vorhandenen Freiräume genutzt, um ihr eigenes Konzept zu entwickeln und umzusetzen. Diese Erfahrung kann anderen Schulen Mut machen, ebenfalls neue Wege zu gehen.
Internationale Resonanz
Die Alemannenschule Wutöschingen hat nicht nur in Deutschland, sondern auch international Beachtung gefunden. Bildungsexperten aus verschiedenen Ländern besuchen die Schule, um das Konzept kennenzulernen und Inspiration für ihre eigene Arbeit zu finden.
Besonders interessant für internationale Besucher ist die Kombination aus innovativer Pädagogik und digitaler Lernumgebung. Die Alemannenschule zeigt, wie digitale Medien sinnvoll in den Lernprozess integriert werden können und wie sie das selbstorganisierte Lernen unterstützen können.
Auch die Tatsache, dass die Alemannenschule eine staatliche Schule ist, die innerhalb des bestehenden Systems neue Wege gegangen ist, macht sie für internationale Besucher interessant. Sie zeigt, dass innovative pädagogische Konzepte nicht auf private oder freie Schulen beschränkt sein müssen, sondern auch im öffentlichen Bildungssystem umgesetzt werden können.
Zukunftsperspektiven
Ruppaners aktuelle Projekte
Nach seinem Ausscheiden als Schulleiter der Alemannenschule im Jahr 2024 widmet sich Stefan Ruppaner neuen Projekten, die darauf abzielen, die an der Alemannenschule entwickelten Konzepte und Materialien einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Als Vorstandsmitglied der Materialnetzwerk Genossenschaft setzt er sich dafür ein, „Lernmaterialien zum selbstorganisierten Lernen für jedermann kostenlos zur Verfügung zu stellen.“ Die Genossenschaft hat erhebliche Ressourcen in die Entwicklung einer digitalen Plattform investiert.
Ein weiteres wichtiges Projekt ist die geplante Gründung einer „Schmetterlingsakademie“. Diese Akademie soll Lehrpersonen gezielt für die Schmetterlingspädagogik ausbilden und so zur Verbreitung des Konzepts beitragen. Darüber hinaus arbeitet Ruppaner an der Entwicklung eines Bachelor- und Masterstudiengangs in Schmetterlingspädagogik. Dieser Studiengang würde es ermöglichen, Lehrpersonen von Anfang an für die Schmetterlingspädagogik auszubilden, statt sie erst berufsbegleitend umschulen zu müssen.
Das Buch zur Schmetterlingspädagogik
„Das könnte Schule machen„, so lautet das erste Buch und der Bestseller von Stefan Ruppaner. Dort beschreibt er den Weg der Alemannenschule und wie Bildung heute aussehen könnte… wenn man wollte. Das Buch erschien im Februar 2025 und ist überall im Handel erhältlich. Das Buch eignet sich für alle, die dieses System selbst umsetzen oder sich inspirieren lassen wollen, aber auch für alle, die dem Ganzen kritisch gegenüberstehen. Auf 240 Seiten lässt sich nämlich vieles mehr in der Tiefe erklären als in einem kurzen Beitrag.
Vision für die Bildung & Unterricht der Zukunft
„Im 21. Jahrhundert mit den Methoden des 19. Jahrhunderts zu lernen kann nicht besonders gut funktionieren“ (Stefan Ruppaner, paraphrasiert)
Seine Vision ist eine Schule, in der Kinder selbstbestimmt lernen können, in der ihre natürliche Neugier und Lernfreude erhalten und gefördert wird und in der sie auf die Anforderungen einer sich schnell verändernden Welt vorbereitet werden. Eine Schule, die nicht mehr primär auf die Vermittlung von Wissen ausgerichtet ist, sondern auf die Entwicklung von Kompetenzen, die es den Schülern ermöglichen, selbstständig zu lernen und Probleme zu lösen.
In dieser Vision spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle, nicht als Selbstzweck, sondern als Werkzeug, das neue Formen des Lernens ermöglicht – laut Ruppaner funktioniert das je besser, je älter die Kinder sind. Auch Künstliche Intelligenz sieht Ruppaner als Chance für die Bildung der Zukunft. Er betont, dass es in Zukunft darauf ankommen wird, „dass die Kinder die Fragen stellen können“ und „dass sie dann in die Fähigkeit versetzt werden, tatsächlich auch zu beurteilen, ob das die richtigen Antworten sind.“
Ruppaners Vision ist eine Bildung, die nicht mehr auf dem Prinzip der Belehrung basiert, sondern auf dem Prinzip der Selbstorganisation und des Erlebens. Eine Bildung, die die Schüler befähigt, in einer komplexen und sich schnell verändernden Welt zu bestehen und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Die Bedeutung von Stefan Ruppaner für die Bildungslandschaft
Revolutionär oder Evolutionär?
Stefan Ruppaner wird oft als Bildungsrevolutionär bezeichnet, der mit traditionellen Strukturen bricht und neue Wege geht. Doch ist er wirklich ein Revolutionär oder eher ein Evolutionär, der bestehende Konzepte weiterentwickelt und an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts anpasst?
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Einerseits hat Ruppaner mit seinem Konzept der Schmetterlingspädagogik tatsächlich einen radikalen Bruch mit dem traditionellen Frontalunterricht vollzogen. Sein provokantes Credo „Unterricht ist aller Übel Anfang“ ist eine klare Absage an die traditionelle Form der Wissensvermittlung.
Andererseits baut die Schmetterlingspädagogik auf bestehenden reformpädagogischen Ansätzen auf, wie etwa der Montessori-Pädagogik oder der Waldorfpädagogik. Wie Ruppaner selbst anmerkt: „Vieles, nicht alles, manches ist ein bisschen radikaler oder ein bisschen konsequenter, muss ich sagen, findet man in Waldorfschulen auch.“
Was Ruppaner auszeichnet, ist nicht so sehr die Erfindung völlig neuer pädagogischer Konzepte, sondern die konsequente Umsetzung und Weiterentwicklung bestehender Ansätze, sowie die Schrittweise etablierung dieses in einer ganz normalen Traditionellen Schule. Er hat es gewagt, das klassische Schulsystem grundlegend zu hinterfragen und neue Wege zu gehen – und zwar nicht als theoretisches Experiment, sondern als gelebte Praxis an einer staatlichen Schule.
Vermächtnis und bleibender Einfluss
Stefan Ruppaners Vermächtnis geht weit über die Alemannenschule Wutöschingen hinaus. Mit der Schmetterlingspädagogik hat er ein Konzept entwickelt, das das Potenzial hat, das deutsche Bildungssystem nachhaltig zu verändern.
Ein wichtiger Teil dieses Vermächtnisses ist die Materialnetzwerk Genossenschaft, die die an der Alemannenschule entwickelten Lernmaterialien kostenlos zur Verfügung stellt. Durch diese Initiative trägt Ruppaner dazu bei, dass sein Konzept auch an anderen Schulen umgesetzt werden kann und dass Lehrpersonen Zugang zu qualitativ hochwertigen Materialien für das selbstorganisierte Lernen haben.
Auch die geplante Gründung einer „Schmetterlingsakademie“ und die Entwicklung eines Bachelor- und Masterstudiengangs in Schmetterlingspädagogik sind wichtige Schritte, um sein Vermächtnis zu sichern und weiterzuentwickeln. Diese Institutionen werden dazu beitragen, dass die Schmetterlingspädagogik nicht nur an einzelnen Schulen umgesetzt wird, sondern zu einem festen Bestandteil der deutschen Bildungslandschaft wird.
Ein weiterer wichtiger Aspekt von Ruppaners Vermächtnis ist sein Einfluss auf die Bildungspolitik. Durch seine Erfolge an der Alemannenschule hat er gezeigt, dass innovative pädagogische Konzepte auch innerhalb des staatlichen Schulsystems umgesetzt werden können und dass sie zu besseren Lernergebnissen führen können. Diese Erfahrung kann dazu beitragen, dass die Politik offener für Experimente und Innovationen im Bildungsbereich wird.
Nicht zuletzt hat Ruppaner durch seine zahlreichen Vorträge, Interviews und Besuche an der Alemannenschule dazu beigetragen, dass sein Konzept einer breiten Öffentlichkeit bekannt wird und dass immer mehr Menschen über alternative Formen des Lernens und Lehrens nachdenken.
Was wir alle von Ruppaner lernen können
Eine wichtige Lektion ist, dass Veränderungen auch innerhalb des bestehenden Systems möglich sind. Ruppaner hat gezeigt, dass man nicht auf grundlegende Reformen von oben warten muss, sondern dass man auch im Kleinen anfangen und schrittweise Veränderungen umsetzen kann.
Eine weitere Lektion ist die Bedeutung der Digitalisierung für das Lernen im 21. Jahrhundert. Ruppaner hat erkannt, dass digitale Medien richtig genutzt(!) das selbstorganisierte Lernen unterstützen können und neue Formen des Lernens ermöglichen können.
Auch die Bedeutung der Gemeinschaft und des sozialen Lernens ist eine wichtige Lektion aus Ruppaners Arbeit. Trotz des Verzichts auf traditionelle Klassengemeinschaften hat die Alemannenschule ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickelt.
Vielleicht die wichtigste Lektion ist jedoch, dass Lernen Freude machen kann und sollte. Ruppaners Vision ist eine Schule, in der Kinder jeden Tag gerne hingehen, in der ihre natürliche Neugier und Lernfreude erhalten und gefördert wird. Diese Vision kann uns alle inspirieren, über unsere eigene Beziehung zum Lernen nachzudenken und nach Wegen zu suchen, wie wir die Freude am Lernen bei uns selbst und bei anderen fördern können.
FAQ: Häufig gestellte Fragen zu Stefan Ruppaner und seiner Arbeit
Was ist die Schmetterlingspädagogik?
Die Schmetterlingspädagogik ist ein von Stefan Ruppaner entwickeltes pädagogisches Konzept, das auf zwei „Flügeln“ basiert: dem selbstorganisierten Lernen und dem Lernen durch Erleben. Der Name leitet sich vom Wappentier der Gemeinde Wutöschingen ab – dem Schmetterling.
Das selbstorganisierte Lernen ermöglicht es den Schülern, frei von Zeit und Raum zu lernen. Sie können entscheiden, wann, wo und mit wem sie lernen möchten. Diese Form des Lernens wird durch digitale Lernplattformen und gut gestaltete Lernmaterialien unterstützt.
Das Lernen durch Erleben findet in der Gemeinschaft statt und ist an bestimmte Zeiten und Orte gebunden. Es umfasst Projekte, Exkursionen, praktische Übungen und gemeinschaftliche Aktivitäten, die den Schülern ermöglichen, Wissen in authentischen Kontexten anzuwenden und durch eigene Erfahrungen zu lernen.
Wie unterscheidet sich die Alemannenschule von traditionellen Schulen?
Die Alemannenschule Wutöschingen unterscheidet sich in mehreren wesentlichen Punkten von traditionellen Schulen:
- Raumkonzept: Statt nach Jahrgangsstufen organisierter Klassenräume verfügt die Schule über funktional gestaltete Lernlandschaften, die unterschiedliche Lernformen ermöglichen.
- Lernorganisation: Es gibt keine starren Stundenpläne und keine Jahrgangsstufen. Die Schüler lernen jahrgangsübergreifend und können in ihrem eigenen Tempo arbeiten.
- Rolle der Lehrperson: Aus Lehrern werden Lernbegleiter, die nicht mehr primär Wissen vermitteln, sondern die Lernprozesse der Schüler begleiten und unterstützen.
- Digitalisierung: Die Schule hat einerseits ein Smartphone-Verbot und nutzt gleichzeitig intensiv digitale Medien (iPad auf denen Social Media & Co gesperrt ist) und verfügt über eine eigene digitale Lernplattform namens „Cliq“, auf der alle Lernmaterialien hinterlegt sind.
- Leistungsbewertung: Statt traditioneller Klassenarbeiten gibt es „Gelingensnachweise“, die den Lernfortschritt dokumentieren und Feedback geben.
Kann das Konzept der Alemannenschule auf andere Schulen übertragen werden?
Ja, das Konzept der Alemannenschule kann grundsätzlich auf andere Schulen übertragen werden, wie die zunehmende Zahl von Nachahmer-Schulen zeigt. Allerdings erfordert die Umsetzung bestimmte Voraussetzungen:
- Engagiertes Kollegium: Die Lehrpersonen müssen bereit sein, ihre Rolle neu zu definieren und sich auf neue Formen des Lehrens und Lernens einzulassen.
- Unterstützende Schulleitung: Die Schulleitung muss den Veränderungsprozess aktiv unterstützen und vorantreiben.
- Räumliche und technische Voraussetzungen: Idealerweise sollten die Räumlichkeiten (schrittweise) an das Konzept angepasst werden, und es sollte eine ausreichende digitale Infrastruktur vorhanden sein.
- Unterstützung durch Eltern und Schulträger: Die Eltern und der Schulträger sollten den Veränderungsprozess mittragen und unterstützen.
Um die Übertragbarkeit zu erleichtern, hat Ruppaner die Materialnetzwerk Genossenschaft gegründet, die die an der Alemannenschule entwickelten Materialien kostenlos zur Verfügung stellt.
Wie schneiden die Schüler der Alemannenschule in standardisierten Tests ab?
Die Schüler der Alemannenschule schneiden in standardisierten Tests und Abschlussprüfungen überdurchschnittlich gut ab. Dies zeigt, dass das innovative Konzept der Schule nicht nur die Motivation und das Wohlbefinden der Schüler fördert, sondern auch zu guten Leistungsergebnissen führt.
Was ist das Materialnetzwerk?
Das Materialnetzwerk ist eine von Stefan Ruppaner gegründete gemeinnützige Genossenschaft, die sich zum Ziel gesetzt hat, „Lernmaterialien zum selbstorganisierten Lernen für jedermann kostenlos zur Verfügung zu stellen.“ Die Genossenschaft hat erhebliche Ressourcen in die Entwicklung einer digitalen Plattform investiert: „Wir haben für über 250.000 € ein Tool entwickelt, mit dem man die Materialien zur Verfügung stellen kann.“
Die Materialien sind so gestaltet, dass sie das selbstorganisierte Lernen optimal unterstützen. Sie bieten klare Instruktionen und sind sorgfältig strukturiert, um den Schülern Orientierung zu geben. Wie Ruppaner erklärt: „Was auch schon vor 12 Jahren klar war: Wir brauchen klare Instruktionen, wir brauchen Lernmaterialien, an denen sich die Kinder orientieren können.“
Was sind Ruppaners aktuelle Projekte?
Nach seinem Ausscheiden als Schulleiter der Alemannenschule im Jahr 2024 widmet sich Stefan Ruppaner neuen Projekten:
- Materialnetzwerk Genossenschaft: Als Vorstandsmitglied setzt er sich dafür ein, die an der Alemannenschule entwickelten Materialien einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
- Schmetterlingsakademie: Ruppaner plant die Gründung einer Akademie, die Lehrpersonen gezielt für die Schmetterlingspädagogik ausbilden soll.
- Bachelor- und Masterstudiengang: Er arbeitet an der Entwicklung eines Studiengangs in Schmetterlingspädagogik, der es ermöglichen würde, Lehrpersonen von Anfang an für diese Pädagogik auszubilden.
- Buch zur Schmetterlingspädagogik: Ruppaner arbeitet an einem Buch, das die theoretischen Grundlagen und praktischen Erfahrungen der Alemannenschule zusammenfassen soll.
Wie sieht Ruppaner die Zukunft der Bildung?
Stefan Ruppaners Vision für die Bildung der Zukunft ist geprägt von der Überzeugung, dass das traditionelle Schulsystem den Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht wird und dass ein grundlegender Wandel notwendig ist. Er kritisiert, dass wir „im 21. Jahrhundert mit den Methoden des 19. Jahrhunderts lernen“ und dass dies nicht funktionieren kann.
Seine Vision ist eine Schule, in der Kinder selbstbestimmt lernen können, in der ihre natürliche Neugier und Lernfreude erhalten und gefördert wird und in der sie auf die Anforderungen einer sich schnell verändernden Welt vorbereitet werden. Eine Schule, die nicht mehr primär auf die Vermittlung von Wissen ausgerichtet ist, sondern auf die Entwicklung von Kompetenzen, die es den Schülern ermöglichen, selbstständig zu lernen und Probleme zu lösen.
In dieser Vision spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle, nicht als Selbstzweck, sondern als Werkzeug, das neue Formen des Lernens ermöglicht. Auch Künstliche Intelligenz sieht Ruppaner als Chance für die Bildung der Zukunft.
Glossar: Zentrale Begriffe der Schmetterlingspädagogik
Schmetterlingspädagogik
Ein von Stefan Ruppaner entwickeltes pädagogisches Konzept, das auf zwei „Flügeln“ basiert: dem selbstorganisierten Lernen und dem Lernen durch Erleben. Der Name leitet sich vom Wappentier der Gemeinde Wutöschingen ab – dem Schmetterling. Die Schmetterlingspädagogik wurde zunächst praktisch an der Alemannenschule umgesetzt und erst später in eine theoretische Form gegossen.
Selbstorganisiertes Lernen
Die erste Flügelseite der Schmetterlingspädagogik. Es bezeichnet eine Lernform, die frei von Zeit und Raum stattfinden kann. Schüler können selbst entscheiden, wann, wo und mit wem sie lernen möchten – allein, zu zweit, in Gruppen, zu Hause, im Lernatelier, in den Ferien etc. Diese Form des Lernens wird durch digitale Lernplattformen und gut gestaltete Lernmaterialien unterstützt.
Lernen durch Erleben
Der zweite Flügel der Schmetterlingspädagogik. Es umfasst alle Lernformen, die nicht allein und nicht frei von Zeit und Raum stattfinden können, sondern in der Gemeinschaft erlebt werden müssen. Dazu gehören Projekte, Exkursionen, Musicals, Sportveranstaltungen, Diskussionen und andere gemeinschaftliche Aktivitäten. Das Lernen durch Erleben schafft Gemeinschaft und soziale Bindungen.
Lernbegleiter
Die neue Rolle der Lehrperson in der Schmetterlingspädagogik. Lernbegleiter vermitteln nicht primär Wissen, sondern unterstützen und begleiten die Lernprozesse der Schüler. Sie stellen Räumlichkeiten, Zeit und Materialien zur Verfügung und helfen den Lernenden, ihren eigenen Weg zu finden.
Lernatelier
Ein speziell gestalteter Raum an der Alemannenschule, in dem Schüler selbstorganisiert und konzentriert arbeiten können. Im Gegensatz zu traditionellen Klassenräumen ist das Lernatelier funktional gestaltet und bietet verschiedene Arbeitsbereiche für unterschiedliche Lernformen.
Graduierung
Ein System an der Alemannenschule, das den Schülern je nach ihrem Entwicklungsstand unterschiedliche Rechte und Pflichten zuweist. Die Graduierung unterstützt das selbstorganisierte Lernen, indem sie klare Strukturen und Orientierung bietet. Es gibt: Neustarter (rot), Starter (gelb), Durchstarter (grün) und Lernprofi (blau). Jeder neue Schüler startet als „Starter“ und kann dann höher (oder auch) niedriger gestuft werden, je nachdem, ob sich der Schüler an die Regeln hält und eine Vorbildfunktion für andere Schüler darstellt.
Kompetenzraster
Ein Werkzeug, das den Schülern einen Überblick über die zu erwerbenden Kompetenzen gibt. Es dient als Orientierungshilfe für das selbstorganisierte Lernen und ermöglicht es den Lernenden, ihren Fortschritt zu verfolgen.
Gelingensnachweise
Eine Alternative zu traditionellen Klassenarbeiten an der Alemannenschule. Gelingensnachweise dokumentieren den Lernfortschritt und geben Feedback, ohne den Fokus auf Noten und Bewertung zu legen.
Cliq
Die digitale Lernplattform der Alemannenschule, auf der alle Lernmaterialien hinterlegt sind. Cliq ermöglicht es den Schülern, jederzeit und überall auf ihre Lernmaterialien zuzugreifen und selbstorganisiert zu lernen. Interessanterweise ist Cliq auch die Plattform, die die Kultusministerkonferenz für die Handreichungen eingeführt hat.
Materialnetzwerk
Eine von Stefan Ruppaner gegründete gemeinnützige Genossenschaft, die sich zum Ziel gesetzt hat, „Lernmaterialien zum selbstorganisierten Lernen für jedermann kostenlos zur Verfügung zu stellen.“ Die Genossenschaft hat erhebliche Ressourcen in die Entwicklung einer digitalen Plattform investiert und stellt die an der Alemannenschule entwickelten Materialien kostenlos zur Verfügung.
Schmetterlingsakademie
Eine von Ruppaner gegründete Institution, die Lehrpersonen gezielt für die Schmetterlingspädagogik ausbilden soll.
Weiterführende Ressourcen
Literatur
Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). Self-determination theory and the facilitation of intrinsic motivation, social development, and well-being. American Psychologist, 55(1), 68–78. https://doi.org/10.1037/0003-066X.55.1.68
Dewey, J. (1997). Experience and education. Free Press.
Hattie, J. (2009). Visible learning: A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. Routledge.
Herrmann, T. (2025). Lehrer, hört die Signale. Bildung zwischen Demokratie und autoritärem Denken. DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. https://www.pedocs.de/volltexte/2025/33160/pdf/Herrmann_2025_Lehrer_hoert_die_Signale.pdf
Montessori, M. (2002). The Montessori method. Dover Publications.
Ruppaner, S., & Willers, A. (2025). Das könnte Schule machen: Wie ein engagierter Pädagoge unser Bildungssystem revolutioniert. Rowohlt Polaris.
Spitzer, M. (2012). Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Droemer.
Websites und Online-Ressourcen
- Materialnetzwerk – Die Plattform des Materialnetzwerks mit kostenlosen Lernmaterialien zum selbstorganisierten Lernen
- Alemannenschule Wutöschingen – Die offizielle Website der Alemannenschule
Diesen Beitrag teilen (:

Autor: Marian Zefferer, MSc.
Psychologe, Papa, NLP-Lehrtrainer & Autor von Bildungsimpuls.com. Dort lebe ich meine Vision, einen Beitrag für unser marodes Bildungssystem zu liefern, damit Lernen wieder geil wird und Bildung als das gesehen wird, was es ist: das geistige Gold der Gesellschaft.
Schreibe einen Kommentar