Noten abschaffen? – Warum Noten die Motivation und die Lernleistung schädigen
Hast Du Dich jemals gefragt, warum manche Aufgaben Dich mit Energie und Begeisterung erfüllen, während andere sich wie eine ermüdende Pflicht anfühlen? Es liegt nicht immer an der Aufgabe selbst, sondern daran, wie Du sie wahrnimmst und welches Feedback Du erhältst. Stell Dir zwei Schüler vor, die beide am selben Rätsel arbeiten. Einer erhält eine einfache Note, während der andere einen Kommentar bekommt, der seine Ausdauer beim Lösen des Problems hervorhebt. Welcher Schüler wird Deiner Meinung nach eifriger die nächste Herausforderung angehen?
Das Motivationsrätsel: Warum Noten nicht immer die Antwort sind
Wir nehmen oft an, dass Belohnungen und Noten der Schlüssel zur Motivation sind. Schließlich möchte jeder für seine Bemühungen anerkannt und gelobt werden. Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass externe Belohnungen manchmal nach hinten losgehen können und unsere intrinsische Motivation – dieses innere Feuer, das unsere Leidenschaft und Neugier antreibt – verringern. Aber welche Art von Feedback hilft wirklich, und welche behindert? Dies ist die Frage, die Ruth Butler, eine Forscherin an der Hebräischen Universität Jerusalem, in ihrer Studie über aufgaben- und ego-bezogene Bewertung und deren Auswirkungen auf Interesse und Leistung zu beantworten suchte.
Die Studie: schriftliches Feedback vs. Noten
Forschungsdesign
Butlers Studie umfasste 132 Schüler der fünften und sechsten Klasse aus israelischen Schulen (Butler, 1988). Die Schüler wurden in drei Gruppen eingeteilt, die nach Erledigung von zwei Aufgaben unterschiedliche Arten von Feedback erhielten: eine Aufgabe erforderte konvergentes Denken (eine richtige Antwort finden) und die andere divergentes Denken (kreative Ideen generieren). Die Aufgaben umfassten Wortkonstruktion aus Buchstaben und das Entwickeln ungewöhnlicher Verwendungsmöglichkeiten für Alltagsgegenstände. Stell es Dir so vor: Eine Aufgabe war wie ein klassisches Mathematikproblem, während die andere das Brainstorming kreativer Lösungen für ein kaputtes Fahrrad war.
Die erste Gruppe erhielt individuelle Kommentare, die sich speziell auf ihre Leistung bezogen, ohne normative Informationen über ihre Stellung im Vergleich zu Gleichaltrigen zu vermitteln. Diese Kommentare konzentrierten sich auf spezifische Aspekte ihrer Arbeit und boten Verbesserungsvorschläge. Beispiele waren: „Du hast Dir ziemlich viele richtige Wörter ausgedacht; vielleicht ist es möglich, an mehr kurze Wörter zu denken“ oder „Du hast Dir ziemlich viele interessante Verwendungsmöglichkeiten ausgedacht… vielleicht ist es möglich, an ungewöhnlichere Verwendungen zu denken, auf die andere Kinder nicht kommen würden“ (Butler, 1988). Die zweite Gruppe erhielt numerische Noten, die ihre Leistung im Vergleich zu ihren Klassenkameraden widerspiegelten. Die dritte Gruppe erhielt sowohl Noten als auch Kommentare. Die Studie maß das Interesse und die Leistung der Schüler in drei Sitzungen: vor jeglichem Feedback, unmittelbar nach Erhalt des Feedbacks und in einer Folgesitzung, in der keine weitere Bewertung erwartet wurde.
Die wichtigsten Ergebnisse: Kommentare siegen auf ganzer Linie
Die Ergebnisse waren beeindruckend. Schüler, die Kommentare erhielten, zeigten das höchste Maß an Interesse und Leistung sowohl bei konvergenten als auch bei divergenten Aufgaben, unabhängig von ihrem akademischen Leistungsniveau (Butler, 1988). Der letzte Teil ist besonders wichtig! Das heißt auch Lernschwache-Schüler profitieren von diesem Ansatz! Im Gegensatz dazu untergruben Noten im Allgemeinen sowohl das Interesse als auch die Leistung (Butler, 1988). Das schlimmste Ergebnis kommt aber erst noch. Wenn die Schüler einen Kommentar erhielten – der ja wie wir wissen positiv wirkt – und gleichzeitig eine Note. War der Effekt genauso schlecht, wie wenn sie nur eine Note bekommen hätten! Mit anderen Worten, Noten schädigen die Motivation und die Leistung, selbst wenn sich en Lehrer um individuelles Feedback bemüht! Nur leistungsstarke Schüler, die Noten erhielten, behielten ein hohes Interesse, obwohl sie Noten bekamen (Butler, 1988). Ein bisschen übertrieben ausgedrückt könnte man sagen:
Noten führen dazu, dass schlechte Schüler noch schlechter werden.
Darüber hinaus zeigten Schüler, die Kommentare erhielten, eine klare Verbindung zwischen dem erhaltenen Feedback und ihrer anschließenden Leistung. Sie nutzten aktiv die Verbesserungsvorschläge, um ihre Arbeit in späteren Sitzungen zu verbessern. Wenn beispielsweise ein Kommentar vorschlug, mehr lange Wörter zu schreiben, waren die Schüler eher geneigt, dies in der folgenden Aufgabe zu tun.
Interessanterweise ergab die Studie auch, dass sich Schüler, die sowohl Noten als auch Kommentare erhielten, hauptsächlich an die Note erinnerten, selbst wenn sie ausdrücklich gebeten wurden, sich an beides zu erinnern. Dies deutet darauf hin, dass die Note als Form der ego-bezogenen Bewertung die potenziell vorteilhaften Effekte des aufgabenbezogenen Kommentars überschattete.
Warum funktionieren Kommentare besser? Aufgaben- vs. Ego-Bezogenheit
Butlers Forschung hebt den entscheidenden Unterschied zwischen „Aufgabenbezogenheit“ und „Ego-Bezogenheit“ hervor. Aufgabenbezogenheit konzentriert sich auf den Prozess des Lernens und der Verbesserung von Fähigkeiten, während Ego-Bezogenheit darauf abzielt, sich mit anderen zu vergleichen und ein bestimmtes Leistungsniveau zu erreichen. Kommentare (also direktes Feedback) fördern, wenn sie sorgfältig formuliert sind, die Aufgabenbezogenheit, indem sie spezifisches, handlungsorientiertes Feedback geben, das hilft zu verstehen, wie man sich verbessern kann. Noten hingegen fördern oft die Ego-Bezogenheit, indem sie Wettbewerb und sozialen Vergleich betonen (Butler, 1988).
Stell es Dir so vor: Du lernst Gitarre spielen. Ein aufgabenbezogener Ansatz würde sich auf das Beherrschen von Akkorden und die Verbesserung Deiner Technik konzentrieren, während ein ego-bezogener Ansatz darauf abzielen würde, besser als andere Gitarristen zu sein oder ein Publikum zu beeindrucken. Obwohl beide Ansätze bis zu einem gewissen Grad motivierend sein können, fördert die Aufgabenbezogenheit eher eine nachhaltige Leidenschaft für das Lernen und Wachsen.
Einschränkungen: Ein Blick hinter den Vorhang
Wie alle Forschungen hatte auch Butlers Studie ihre Einschränkungen. Die Studie konzentrierte sich auf Schüler der fünften und sechsten Klasse in einem spezifischen kulturellen Kontext (jüdische israelische Schüler) (Butler, 1988), sodass die Ergebnisse möglicherweise nicht auf alle Bevölkerungsgruppen verallgemeinert werden können. Darüber hinaus verwendete die Studie spezifische Arten von Aufgaben und Feedback. Dennoch bietet die Studie wertvolle Einblicke in die komplexe Beziehung zwischen Feedback und intrinsischer Motivation.
Kontroverse Aspekte: Die Notendebatte
Die Rolle von Noten in der Bildung ist eine langjährige Debatte. Kritiker argumentieren, dass Noten Angst erzeugen, die intrinsische Motivation untergraben und eine Konzentration auf Leistung statt auf Lernen fördern können. Befürworter argumentieren, dass Noten eine notwendige Form der Bewertung, Motivation und Anleitung bieten. Butlers Forschung trägt zu dieser Debatte bei, indem sie die potenziellen negativen Auswirkungen von Noten auf die intrinsische Motivation und Leistung hervorhebt, insbesondere im Vergleich zu den Vorteilen von aufgabenbezogenen Kommentaren (Butler, 1988).
Die Frage ist also vielleicht gar nicht, ob Noten gut oder schlecht sind, sondern ab wann man sie am besten einführt, ohne großen Schaden anzufügen. Sprich, selbst wenn man Noten (z.B. für die spätere ‚Auslese‘ für das Studium, etc.) benötigt, könnte man ja auch erst in höheren Jahrgängen anfangen. Die Auslese beginnt bei uns so früh, da wir nach der 4. Klasse bereits wählen (Mittelschule vs. AHS – Österreich).
Außerdem kann ein Umbruch (Lehrer geben auf einmal keine Noten, sondern müssen Rückmeldungen geben), auch zu Nachteilen führen, da dies (erst mal) für Lehrer aufwendiger ist. Andere Lehrer könnten keinen Sinn darin sehen oder ein ‚Machtmittel‘ verlieren, was zu Unsicherheiten aufseiten des Lehrers führen kann. Kurzum, der Übergang muss natürlich sinnvoll begleitet werden.
Vom Labor in Dein Leben: Praktische Anwendungen
Was kannst Du als Schüler, Lehrer oder einfach jemand, der motiviert bleiben möchte, aus dieser Studie lernen?
- Suche nach spezifischem Feedback: Strebe nicht nur nach einer guten Note. Suche aktiv nach spezifischen Kommentaren zu Deiner Arbeit, die Deine Stärken und Verbesserungsbereiche hervorheben.
- Konzentriere Dich auf den Prozess: Verlagere Deinen Fokus vom Vergleich mit anderen auf das Beherrschen der für die Aufgabe erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse.
- Noten neu interpretieren: Wenn Du eine Note erhältst, versuche, sie nur als ein Stück Information über Deine Leistung zu sehen, nicht als Urteil über Deinen gesamten Wert oder Deine Fähigkeit.
- Für Pädagogen: Lehrer können die intrinsische Motivation fördern, indem sie spezifisches, aufgabenbezogenes Feedback geben, das sich auf den Fortschritt und die Verbesserung der Schüler konzentriert. Irgendwann müssen (in den meisten Schulen) natürlich Noten gegeben werden, aber diese sollte nicht(!) zeitgleich stattfinden. Sondern zuerst sollte der Kommentar gegeben werden und zeitversetzt erst später kann die Pflichtnote vergeben werden.
Erinnerst Du Dich an das Rätsel?
Erinnerst Du Dich an die beiden Schüler vom Anfang des Artikels? Der Schüler, der die Note erhielt, könnte sich unter Druck gesetzt fühlen, in Zukunft gut abzuschneiden, aber seine intrinsische Motivation könnte verringert sein. Der Schüler, der den Kommentar erhielt, fühlt sich hingegen eher ermutigt, weiter zu lernen und sich zu verbessern, angetrieben von einem echten Interesse am Rätsel selbst.
Wichtige Erkenntnisse
- Aufgabenbezogenes Feedback ist effektiver als Noten bei der Förderung intrinsischer Motivation und Leistung.
- Noten können Ego-Bezogenheit fördern, was die intrinsische Motivation untergraben kann, besonders bei leistungsschwachen Schülern.
- Die Konzentration auf den Lernprozess und das Suchen nach spezifischem Feedback kann Dir helfen, motiviert zu bleiben und Deine Ziele zu erreichen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Gehören Noten abgeschafft?
Die Fragestellung ist natürlich komplexer, da Noten ja nicht nur für die Motivation und Leistungssteigerung da sind. Aber es lohnt sich auf jeden Fall über diese Frage ernsthaft nachzudenken! Wenn man nur diese Studie heranzieht (was man niemals machen sollte), wäre die Antwort: Ja. - Sind Noten immer schlecht?
Nicht unbedingt. Noten können nützliche Informationen über Deine Leistung liefern, aber es ist wichtig, sie auf gesunde Weise zu interpretieren und nicht zuzulassen, dass sie Deinen Selbstwert definieren. Primär werden Noten benötigt, um die Selektion (Lehre vs. Höhere Schule, Universität vs. Arbieten, etc.) möglichst einfach z.B. wie in Deutschland mithilfe des MCs zu gestalten. - Wie kann ich besseres Feedback von meinen Lehrern erbitten?
Sei spezifisch in Deinen Anfragen. Bitte um Feedback zu bestimmten Aspekten Deiner Arbeit und wie Du Dich verbessern kannst. - Was ist, wenn ich von Natur aus wettbewerbsorientiert bin? Ist Ego-Bezogenheit immer schädlich?
Wettbewerb kann motivierend sein, aber es ist wichtig, ein gesundes Gleichgewicht zu halten und Dich nicht davon verzehren zu lassen. Konzentriere Dich auf Deinen eigenen Fortschritt und Dein Wachstum, anstatt darauf, andere zu übertreffen. - Gibt es noch weitere Studienergebnisse dazu?
Natürlich: Ziffernnoten führen bei schlechten Leistungen zu Motivationsverlust, Hilflosigkeitserleben und geringerer Anstrengung. Intrinsische Motivation wird kaum gefördert (Dolschak, 2008; Heinrichs et al., 2017). Soziales Verhalten: Ziffernnoten erhöhen das Risiko für Peer-Viktimisierung und negatives Klassenklima; insbesondere Mädchen neigen dazu, Misserfolge internalisierend zu attribuieren (Sansen, 2013; Holzinger, 2016). Langfristiges Leistungsniveau: Ein niedriges Fähigkeitsselbstkonzept infolge wiederholter schlechter Noten führt zu Vermeidungsverhalten und Leistungsabfall im Längsschnitt (Heinrichs et al., 2017).
Glossar:
- Intrinsische Motivation: Der innere Antrieb, sich mit einer Aktivität wegen der innenwohnenden Befriedigung und Freude zu beschäftigen, die sie bietet.
- Extrinsische Motivation: Der Antrieb, sich mit einer Aktivität zu beschäftigen, um eine externe Belohnung zu erhalten oder eine Bestrafung zu vermeiden.
- Aufgabenbezogenheit: Ein Motivationszustand, der durch die Konzentration auf den Prozess des Lernens und der Verbesserung von Fähigkeiten gekennzeichnet ist.
- Ego-Bezogenheit: Ein Motivationszustand, der durch die Konzentration auf den Vergleich mit anderen und das Erreichen eines bestimmten Leistungsniveaus gekennzeichnet ist.
- Konvergentes Denken: Ein kognitiver Prozess, der darauf abzielt, eine richtige Antwort auf ein Problem zu finden.
- Divergentes Denken: Ein kognitiver Prozess, der darauf abzielt, kreative und originelle Ideen zu generieren.
Quellen
Butler, R. (1988). Enhancing and undermining intrinsic motivation: The effects of task-involving and ego-involving evaluation on interest and performance. British Journal of Educational Psychology, 58(1), 1-14.
Dolschak, B. (2008). Personelle Motive und aktuelle Motivation beim Fremdsprachenerwerb.
Heinrichs, K., Helm, C., & Krumpholz, M. (2017). Effekte des Leistungsselbstkonzepts auf die Leistung von Schüler:innen im Fach Rechnungswesen. wbv Publikation. https://doi.org/10.3278/6004552w132
Sansen, L. M. (2013). Peer-Viktimisierung : Erfassung belastender sozialer Erfahrungen in Kindheit und Jugend und deren Auswirkungen auf Psychopathologie.
Holzinger, A. (2016). Wahrgenommene Lehrereinschätzung und das Attributionsmuster von Schülerinnen und Schülern im Unterrichtsfach Mathematik.
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Autor: Marian Zefferer, MSc.
Psychologe, Papa, NLP-Lehrtrainer & Autor von Bildungsimpuls.com. Dort lebe ich meine Vision, einen Beitrag für unser marodes Bildungssystem zu liefern, damit Lernen wieder geil wird und Bildung als das gesehen wird, was es ist: das geistige Gold der Gesellschaft.
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